Vielfalt anstelle von Gleichmacherei
Die Schulleiter Mathias Kessler und Ralf-Michael Röckel sind leidenschaftliche Verfechter der neuen Schulform. Im GEA-Gespräch erklären sie, warum.
Mathias Kessler und Ralf-Michael Röckel sind Überzeugungstäter. Für ihre Schüler wünschen sie sich die beste Förderung. Irmgard Walderich und Andreas Fink haben sich mit den beiden Pädagogen in der Metzinger GEA-Redaktion unterhalten.
GEA: Die Anfangseuphorie ist verflogen. Wie sieht jetzt Ihr Alltag aus?
Mathias Kessler: Die Anfangseuphorie hat sich in eine Arbeitseuphorie gewandelt. Das Warten auf den Tag X war hochspannungsgeladen. Dann ging es direkt los, Montagmittag die ersten Sitzungen. Jetzt sind die Kollegen in Arbeit. Das ist noch einmal eine ganz andere Phase und damit verbunden auch noch einmal eine andere Euphorie. Das Jubeln hört man jetzt eigentlich nicht mehr, jetzt geht es darum, das richtig gut zu machen. Ralf-Michael Röckel: Euphorisch sind wir nach wie vor. Wir sind, und da spreche ich fürs ganze Kollegium, immer noch total begeistert, dass wir dabei sind. Jetzt laufen die Vorbereitungen fürs nächste Schuljahr auf Hochtouren. Der Arbeitsaufwand ist bei uns extrem gewachsen.
Haben sich schon interessierte Eltern gemeldet?
Röckel: Seit Bekanntgabe der Starterschulen bekommen wir viele Anfragen von Eltern, die grundlegenden Informationsbedarf zur Gemeinschaftsschule haben. Sie fragen, was ist Gemeinschaftsschule? Ist das eine Gesamtschule? Nein, eben nicht. Die Frage gibt’s immer noch, und das wird in Bad Urach genauso sein. Viele Eltern denken ja noch ganz klassisch in Hauptschule, Realschule, Gymnasium. Da sage ich, vergessen Sie die Einteilung. Für die Gemeinschaftsschule ist diese Aufteilung vom Tisch. Es ist richtig schön zu sehen, dass sich immer mehr Eltern für Gemeinschaftsschule interessieren. Ich muss sagen, für Walddorfhäslach ist diese Gemeinschaftsschule ein richtig großer Wurf. Endlich ist dieses Dogma »Hauptschule« verschwunden. Kessler: Das ist bei uns genauso. Wir haben auch viele Elternanfragen und -gespräche und wir haben diverse Infoveranstaltungen gemacht. Die nächste ist am Mittwoch, 29. Februar, 18 Uhr. Da können dann auch die Kinder dabei sein. Dort wird ganz konkret gesagt, wie die Klassenlehrer heißen, der Stundenplan aussieht, wie läuft eine Unterrichtseinheit konkret ab, wie sieht so ein Lernjob aus, was ist ein Kompetenzraster. Röckel: Bei uns kam die Anfrage, machen Sie mal einen Tag der offenen Tür, an dem Sie Ihre Gemeinschaftsschule vorstellen? Die neue Gemeinschaftsschule kann ich leider noch nicht vorstellen, da wir ja erst nächstes Schuljahr starten. Wir laden alle Eltern zu einem persönlichen Gespräch ein und zeigen, was wir bisher schon hervorragend gemacht haben und wie es weitergehen kann. Wir haben in den letzten 14 Tagen unendlich viele Einzelgespräche mit Eltern und Kindern geführt und sie haben sich dann die Schule vor Ort angeschaut.
Wollen viele ihre Kinder anmelden?
Röckel: Wir werden mit einer stabilen Klasse starten. Vielleicht kratzen wir an der Zweizügigkeit. Aber die offizielle Anmeldung ist erst am 28./29. März. Ich glaube, die Gemeinschaftsschule wird angenommen, weil sie tatsächlich eine Schule ist, in der man länger gemeinsam lernen kann.
Wie funktioniert Gemeinschaftsschule ganz konkret?
Kessler: Es gibt eine Lerngruppe, früher hat man Klasse dazu gesagt, mit maximal 28 Kindern. Diese Gruppe bleibt die gesamte Zeit bis zur zehnten Klasse zusammen. In der Woche gibt es ganz unterschiedliche Phasen. Es gibt Phasen, die sind bestimmt durch einen ganz hohen Anteil an individuellem Lernen. Wir planen das in den Kernfächern Deutsch, Mathe, Englisch beziehungsweise Französisch. Dort starten wir mit einem gemeinsamen Input, der das Thema für unterschiedliche Fragestellungen mit unterschiedlichen Wegen öffnet. Dann wird es eine Eingangsdiagnose der Schüler geben. Das Ganze macht man mit sogenannten Kompetenzrastern. Das Kind bekommt danach einen bestimmten Lernjob. Da gibt es eine Zielvereinbarung, beispielsweise eine Aufgabe im Fach Mathematik für diese Woche. Der Schüler erhält eine Checkliste. Wenn er denkt, dass er die Zielvorgabe erreicht hat, kann er zum Lehrer gehen und das Erlernte unter Beweis stellen. Zentrale Klassenarbeiten gibt es also nicht mehr.
»Aus jedem Schüler sein Potenzial herauskitzeln«
Es gibt Schüler, die haben keine Lust zu lernen. Wie gehen Sie damit um?
Kessler: Der Lehrer ist nicht nur der Lernjobverteiler, er ist auch der Begleiter. Genauso wie er die Aufgaben individuell erteilt, wird er die Schüler auch unterschiedlich betreuen. Da gibt es Schüler, die mehr Unterstützung und Betreuung brauchen und andere weniger. Jeder Schüler muss das bekommen, was er braucht. Das bezieht sich nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf die Motivation. Die Kernfächer sind also stark durch das individuelle Lernen geprägt. Dann gibt es auch noch die naturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Die wollen wir in Projekten zusammen bearbeiten, die starken und die schwachen Schüler gemeinsam. In jedem Projekt gibt es unterschiedliche Aufgaben, sodass jeder etwas dazu beitragen kann. Es geht nicht um gute, schlechte oder mittlere Schüler, sondern es geht darum, aus jedem sein Potenzial herauskitzeln, etwas beitragen zu können. Es geht darum, Individuen für sich selbst stark zu machen, aber sie auch zu befähigen, für die Gemeinschaft etwas beizutragen.
Ist der vom Kultusministerium vorgegebene Lerngruppen-Teiler zu hoch?
Kessler: Ich persönlich könnte mir auch kleinere Gruppen vorstellen. Aber Gemeinschaftsschule muss man auch zahlen können. Wenn wir einmal 100 bis 150 Gemeinschaftsschulen haben, muss es einfach auch realistisch sein. Außerdem werden wir wissenschaftlich begleitet und permanent evaluiert. Wenn sich herausstellen würde, dass man so nicht arbeiten kann, wird der Teiler sicherlich wieder zur Diskussion stehen. Röckel: Ich bin prinzipiell mal froh, dass man nicht an die Oberkante von 30 oder 32 Schüler gegangen ist. Aber natürlich hätte ich mir auch ein bisschen weniger gewünscht. Mit 28 Schüler zu schaffen ist zwar nicht einfach, aber durchaus machbar. Außerdem: Wenn ich 29 Schüler habe, dann darf ich teilen und habe zwei wunderbare Klassen. Den herkömmlichen Klassenbegriff wird es außerdem gar nicht mehr geben. Klassenarbeiten zum gleichen Zeitpunkt, am gleichen Ort, gleiche Medien für alle, alles gleich – Pustekuchen. Diese homogene Gruppe gibt es in keiner Schule, die hat es noch nie gegeben. Kessler: Dazu gibt es eine große Studie von Professor Bohl aus Tübingen: Danach lesen viele Gymnasiasten auf Realschul-, teilweise sogar auf Hauptschulniveau. In der Hauptschule gibt es dagegen Kinder, die auf Realschul- oder Gymnasialniveau lesen, schreiben, rechnen können. Das zeigt, dass die Zuteilung zu einer bestimmten Schule noch nie so richtig gestimmt hat. Röckel: Wir müssen weggehen vom bisherigen Bild der Schulen. Der Lehrer, der vorne am Pult referiert und Arbeitsblätter verteilt – vergessen Sie es. Den traditionellen Lehrer gibt es nicht mehr. Man muss sich auf jeden Schüler ganz individuell einlassen. Der Lehrer ist Motivator und individueller Lernbegleiter. Und noch was zur Euphorie: Bis jetzt konnten wir uns nur aufhalten im Bildungsplan Hauptschule. Aber es gibt an meiner Schule Kinder, die sind mathematisch unheimlich begabt. Mit denen konnte ich nie Winkelfunktionen machen, war im Bildungsplan gar nicht vorgesehen. Jetzt kann ich es. Wir haben den Basislehrplan Realschule. Und wenn ich Kinder mit gymnasialen Begabungen habe, dann darf ich sie mit gymnasialen Kompetenzen ausstatten. Wir in Walddorfhäslach kooperieren dafür mit dem BZN.
Der traditionelle Lehrer wird nicht mehr gebraucht, aber es gibt vielleicht Kollegen, die unterrichten noch so. Was machen Sie mit denen?
Kessler: In der ersten fünften Klasse müssen ja nicht alle unterrichten. Aber man muss das erleben. Man muss sehen, wie Schule sich verändert. Das gesamte Kollegium ist sich einig darüber, worin die Zukunft der Bildung besteht. Die Kollegen werden sich in den nächsten Jahren alle ganz auf dieses neue Unterrichten und das neue Verständnis einlassen, da bin ich mir sicher. Denn die deutliche Mehrheit steht euphorisch hinter dem Konzept. Außerdem: Es gibt gezielte Fortbildungen, wir machen pädagogische Tage. Wir waren uns alle relativ einig: So wie es bisher war, kann es nicht mehr weitergehen. Röckel: Wie sieht denn die Zukunft der Hauptschule aus? Es war allen klar, wir müssen die Arbeitsweise ändern. Wir mussten unsere Hauptschüler anders fördern, wie vor 15 Jahren, damit überhaupt noch Schüler zu uns kamen. Eltern kommen zu mir und sagen: Wir haben Ihre Schule schon lange beobachtet, Herr Röckel, mit Ihren tollen Übergangszahlen. Aber wissen Sie, warum wir nie zu Ihnen gekommen sind: Auf Ihrem Briefkopf stand eben Hauptschule.
Kessler: Außerdem, ich glaube, dass Widerstände im Kollegium eher was mit Unsicherheit zu tun haben. Da ist meine Rolle, die Kollegen zu bestärken. Wir haben in unserer Planungsgruppe auch bereits Sonderpädagogen, Realschul- und Gymnasiallehrer drin. An den Haupt- und Grundschulen findet ja schon ganz viel individuelle Förderung statt. An Gymnasien und Realschulen noch gar nicht. Für die ist das ganz großes Neuland. Die müssen da auch reinwachsen. Deshalb ist dieser Prozess des gegenseitigen Hospitierens und gemeinsamen Sprechens ganz arg wichtig.
Wie viele im Kollegium haben der Gemeinschaftsschule zugestimmt?
Röckel: Bei uns war es einstimmig. Kessler: Bei uns gab es eine klare Mehrheit, aber auch einige Bedenkenträger.
Heißt Gemeinschaftsschule Überstunden für die Lehrer?
Kessler: Dass es Mehrarbeit ist, ist jedem völlig klar. Aber das war schon bei vielen Kollegen in der Vergangenheit so. Die haben nicht auf die Arbeitszeit geschaut. Röckel: Für die Kollegen in der Gemeinschaftsschule wird es mit Sicherheit mehr werden, aber das Unterrichten ist ein anderes. Es wird auch zusätzliche Freude bringen.
Wie sieht es mit zusätzlichen Lehrerstunden aus?
Kessler: Es wird mit Sicherheit zusätzliche Lehrerstunden geben. Es gibt die normalen Lehrerstunden, die Ganztagesstunden-Zuweisung, dann für Inklusion, Anschubstunden und Stunden für die individuelle Förderung. Ich geh davon aus, dass wir diverse Unterrichtsstunden im Tandem machen, also zu zweit, um Kinder individuell auf den unterschiedlichen Niveaus zu fördern.
Röckel: Wenn die Gemeinschaftsschule gelingen soll, dann muss die Politik am Anfang ein bisschen mehr geben als jetzt angedacht ist. Diese Position werde ich an geeigneter Stelle immer wieder vertreten.
Fühlen Sie sich vom Ministerium gut betreut oder ist noch zu viel offen?
Röckel: Strukturänderungen kann man immer weiter optimieren, aber irgendwann muss man auch mal beginnen. Wir hatten kürzlich die erste Start-up-Veranstaltung. Da hat das Ministerium gesehen, dass noch ganz viele Rahmenbedingungen abgestimmt werden müssen. Deshalb treffen sich im März die Starterschulen noch einmal. Ich persönlich hätte schon gern jemand vom Kultusministerium gehabt, der mich Tag und Nacht begleitet (lacht). Aber für mich ist das Weniger an Betreuung zugleich auch mehr Freiraum, den man gestalten kann. Kessler: Dieser Begriff der Starterschulen ist ja eigentlich ein Witz. Wir haben uns schon lange auf den Weg gemacht. Ich bin überzeugt, die Starterschulen werden das gut hinbekommen. Aber die Landesregierung will mit der Gemeinschaftsschule in die Fläche gehen. Da ist es dann tatsächlich wichtig, gute Rahmenbedingungen zu haben.
Was passiert, wenn sich die politischen Verhältnisse in Baden-Württemberg ändern? Ist die Gemeinschaftsschule dann eine Eintagsfliege?
Röckel: Das bisherige dreigliedrige Schulsystem ist gesellschaftlich nicht mehr gewollt. Ich glaube, da sind sich alle Parteien einig. Das Allerschlechteste wäre, wenn eine andere Landesregierung wieder was völlig anderes machen würde. Man müsste so fair sein wie in Norddeutschland, für 10 bis 15 Jahre Schulfrieden zu schließen. Das bedeutet Sicherheit für unsere Kinder, unsere Lehrer und auch für die Eltern. Die Gemeinschaftsschule wird ein Erfolgsmodell sein, da bin ich mir sicher. Kessler: Dann muss man auch sagen, die Gemeinschaftsschule ist das Richtige. Und dann muss man aufhören, sie bewusst mit der Gesamtschule zu verwechseln. Die Gemeinschaftsschule ist das, was zum Beispiel in der Schweiz hocherfolgreich abläuft.
Wird mit dem ersten Jahrgang Gemeinschaftsschule erst noch ausprobiert – sind die Kinder also, bösartig gesprochen, Versuchskaninchen?
Röckel (zu Kessler gewandt): Da sagen wir am besten gleichzeitig: Sie sind keine Versuchskaninchen. Sie beginnen in einer Modellschule mit unheimlich viel Potenzial. Kessler: Die Kollegen, die dort unterrichten, haben sich in vielen Jahren hervorgetan, durch die Fähigkeiten genauso unterrichten zu können. Diese Art des Unterrichtens ist im gesamten europäischen Ausland d’accord. Es ist kein Experiment mit offenem Ausgang.
Röckel: Wir werden alle mit Hochdruck daran arbeiten, dass der Abschluss an der Gemeinschaftsschule besser ist, als an allen anderen Schulen. Er muss besser sein, weil wir sechs Jahre lang individuell gefördert haben. Sie kennen vielleicht das pädagogische V-8-Konzept: Auf vielfältigen Wegen mit vielfältigen Menschen an vielfältigen Orten zu vielfältigsten Zeiten mit vielfältigen Materialien in vielfältigen Schritten mit vielfältigen Ideen in vielfältigen Rhythmen zu gemeinsamen Zielen. Man muss Vielfalt fördern, nicht die Gleichmacherei. (GEA)